19 Äthiopien

Reisebericht 40 /Moyale - Metema (Grenze zum Sudan) / 12. 01. 2019 - 01. 02. 2019

Kilometerstand von der Schweiz über China, Indien und Afrika: 119'400 km (Total 248'000 km incl. Panamericana)

Reiseroute: Moyale, Yabelo, Konso, Turmi, Jinka, Konso, Arba Minch, Lake Langano, Addis Abeba, Bahir Dar, Lalibela, Gondar, Metema

In der Abgeschiedenheit des Omo Flusses

Verschiedene Reisende, die aus dem Norden kamen, haben uns vor den Unruhen im Süden Äthiopiens gewarnt. Den Zoll auf kenianischer Seite passieren wir dann ohne Probleme, doch auf äthiopischer Seite sind die Spuren der Verwüstung allgegenwärtig. Oromo und Somali haben sich im Grenzort Moyale bis vor wenigen Tagen blutige Gefechte geliefert. Wir fahren an verkohlten Gebäuden entlang, die Menschen schauen uns abweisend an und wir beschliessen, doch besser im 200 km entfernten Jabello zu übernachten. Hier finden wir einen einsamen Stellplatz mitten in der Wildnis und haben eine herrliche Sicht auf den funkelnden Sternenhimmel.

Am nächsten Tag fahren wir in das Gebiet der Konso.
Die Siedlungen hier sind besonders malerisch und erinnern mit ihren Steinmäuerchen und den gepflegten Terrassenfeldern ans Tessin. Seiner Einzigartigkeit wegen ist das Gebiet ins Unesco-Weltkulturerbe aufgenommen worden. Gerste, Mais, Soja und Bohnen werden angebaut, aber auch Tomaten, Papaya, Kaffee, Baumwolle und Sonnenblumen. Ausserdem wächst hier der Morenga-Baum, dessen Blätter bei Bluthochdruck und gegen Malaria eingesetzt werden. Die Hütten in dieser Gegend sind runde, bienenkorbähnliche Geflechte aus dünnen Ästen, dessen niedriger Eingang auf der windabgewandten Seite angebracht ist.

Ein Museum der Völker

Im südlichen Äthiopien leben über 80 verschiedene ethnische Völker, oft weit abseits der Zivilisation. Erkennungs- bzw. Unterscheidungsmerkmale dieser Ethnien sind neben Frisur und Kleidung auch ihr Schmuck und Körperbemalungen.

Wir befinden uns an einer der abgelegensten Regionen Afrikas, im äthiopischen Omo-Tal, über 800 km südwestlich von Addis Abeba gelegen.
Hier siedeln zahlreiche Stämme mit ihren eigenen Sitten und Ritualen, mit eigener Sprache sowie mit einer individuellen Art des Körperschmucks und Brauchtums Die bekanntesten dieser Stammesgesellschaften sind die Karo, die Mursi, die Erbore und die Hamer. Die Menschen leben noch weitgehend traditionell, als Bauern, Rinderzüchter und Jäger.

Auf der Strecke nach Turmi sind die Menschen am Strassenrand überaus erfinderisch, wie sie an Bares kommen können. Meistens rufen sie uns hinterher: "You, you, you", was soviel heisst wie Fremder, oder Weisser und schreien dabei, "give me money".
Etwas mehr Phantasie haben da die Kids der Karo. Knapp bekleidet mit weisser Farbe bemalt, vollführen sie auf Stelzen einen regelrechten Tanz mitten auf der Strasse. Natürlich wollen auch sie Geld und dies nicht gerade zimperlich.
Zwischen den Rundhütten am Wegesrand tummeln sich Ziegen und Hunde. Die Menschen ernähren sich hauptsächlich von Ziegenfleisch und Gerste. Das Trinkwasser holen sie aus dem Omo-Fluss.

Wir übernachten mitten in Turmi, dessen 1500 Seelen Gemeinde im flachen und heissen Buschland liegt auf einem Camp, das von einheimischen "Hamer" geführt wird und erfahren, dass morgen der legendäre «Bullensprung» stattfindet. Der Stamm der Hamer ist berühmt für diesen Initiationsritus, bei dem ein junger Mann nackt über mehrere Rinderrücken läuft, um seine Heiratsfähigkeit zu beweisen.
So nehme wir uns am nächsten Tag einen Guide, Haylo, der uns zu diesem Anlass begleiten wird. Der «Bullensprung» sei eine Tradition die Bestand habe, mit oder ohne Touristen, so Maylo. Immerhin nehmen die Hamer an diesem Anlass pro fremden Besucher 600 Birr ein, rund 20 Franken.

Um die Mittagszeit besuchen wir den traditionellen Markt hier im Dorf. Wie Models posieren die Hamer Frauen vor der malerischen Kulisse ihrer mitgebrachten Ware. Ihre Körper sind kunstvoll mit weisser Lehmerde bemalt, um die Hüften haben sie Ziegenfelle oder bunte Tücher geschlungen. Als Schmuck dienen Ketten aus farbigen Perlen oder aus Kaurimuscheln. Manche Männer haben sich die Haare zu phantasievollen Gebilden auftürmen lassen, in die sie Federn stecken.
Sie verkaufen Kautabak, Honig, Feuerholz, Schmuck, Kleidung und Getreide. Dieser Markt ist an Exotik kaum zu übertreffen.

Hinter Turmi gibt es keine Strassen mehr. Mit unserem Suri holpern wir durch trockene Flussläufe und über staubige Ebenen, bis uns ein Graben von der Weiterfahrt definitiv aufhält. Wir parkieren mitten im Busch und gehen zu Fuss weiter. Ein wilder Lärm dringt von fern an unser Ohr. Es sind Frauen, die hysterisch in ihre Metallhörner stossen, sie singen in schrillen Tönen und rasseln mit den Schellen, die sie sich um die Unterschenkel gebunden haben. Auch sie sind aufs Üppigste geschmückt. An ihren Oberarmen tragen sie mehrere silberfarbene Metallreifen. Verheiratete Frauen fallen auf durch einen groben Halsschmuck und speziell gezöpfelte Haare.

Dann streift der Blick ihre Rücken – und man schaut schnell wieder weg, in der vagen Hoffnung, nicht richtig gesehen zu haben. Bei den meisten Frauen ziehen sich dicke, wulstige Narben über die dunkle Haut, viele sind frisch aufgebrochen und bluten. Gleichzeitig fasziniert und abgestossen, folgen wir dem Getöse und Geschepper an den Ort, wo das Vorspiel des «Bullensprung» stattfinden soll. Ein süss-säuerlicher Geruch liegt in der Luft. Frauen wie Männer haben ihre Haare mit einer Paste aus ocker roter Erde und Butter eingerieben. Butter glänzt auch auf den vielen halbnackten, schwitzenden Körpern.

Die Frauen tanzen hektisch, ekstatisch, sie stampfen rhythmisch auf den Boden und blasen in die Hörner, singen und fordern so die Männer dazu auf, sie zu peitschen. Es sind Frauen aus der Familie des heiratswilligen Jünglings, um den sich hier alles dreht. Sie geben so ihrer Zuneigung zu ihm Ausdruck. Manche Männer lassen sich lange bitten, andere holen schnell und kräftig zum Schlag aus. Dann saust ein Zischen durch die Luft und die feine Rute klatscht scharf über den Frauenrücken. Die Rute dringt tief ins Fleisch ein, so dass Blut hervorquillt. Mit herausfordernder, lächelnder Miene verlangt die Frau nach mehr, ohne nur das kleinste Anzeichen von Schmerz zu zeigen. Der Mann schlägt ein zweites, ein drittes Mal zu, bevor sie sich abwendet. Je mehr Narben eine Frau auf dem Rücken trägt, desto mehr Volljährigkeitsrituale hat ihre Familie ausgerichtet und umso grösser ist ihr Ansehen.

Als sich die Sonne dem Horizont nähert, ist es endlich so weit. Gemeinsam mit den Hamer, die mehrheitlich eine Kalischnikow um die Schulter geschlungen haben, wechseln wir den Ort. Wir wandern durch den Busch, immer dem Singsang und den Schellen der Frauen hinterher. Auf einer Lichtung werden die Zebus, die afrikanischen Rinder, herangetrieben. Sechs von ihnen werden in einer Reihe aufgestellt, Flanke an Flanke, an den Hörnern und am Hinterteil festgehalten von bunt geschmückten und bemalten Hamer-Männern. Die Tänze der Frauen nehmen an Intensität zu, es wir lauter und hektischer. Der Bräutigam steht bereit, die Dorfbewohner stehen im Kreis um ihn herum und feuern ihn an. Ein diffuses Licht lässt die Szene beinahe unwirklich erscheinen. Männer und Frauen drängen sich um die Rinder, um den ungeduldig erwarteten Sprung nicht zu verpassen. Wir sind nicht alleine, auch andere Touristen bringen ihre Kameras in Stellung. Nichts geschieht. Spannung liegt in der Luft, der Lärm der Metallhörner ist ohrenbetäubend. Plötzlich, ohne Vorankündigung, ist der Moment da. Splitternackt springt der junge Mann über die Rücken der Tiere, einmal, zweimal, dreimal, viermal. Dann ist alles vorbei. Im Halbdunkeln gehen wir durch den Busch zurück zum Auto. Für das soeben Erlebte fehlen uns fast die Worte, so eindrücklich war das Geschehen.

Wie uns Haylo später berichtet, muss der "Bullenspringer" anschliessen drei Monate alleine im Busch verweilen, bevor er ins Dorf zurück kehren kann und sich eine Frau aussuchen darf. Als Brautpreis muss er der Familie der Braut 38 Ziegen überweisen. Nicht wenig wenn man bedenkt, dass eine Ziege etwa 30 Dollar kostet. Trotzdem darf jeder Mann so viele Frauen haben, wie er sich leisten kann.
Wie lange angesichts der immer zahlreicheren Touristen wird diese aussergewöhnliche Tradition wohl noch Bestand haben?

Am nächsten Tag fahren wir nach Dimeka. Eine staubige Rumpelpiste bringt uns in dieses Dorf, das vor allem vom Volksstamm der Hamer, der Benna und der Tsemai bevölkert wird. Auf dem zwei Mal in der Woche abgehaltenen Markt herrscht ein emsiges Treiben. Uns fallen die geschnitzten Stühlchen auf, die Barkuta, die jeder Hamer-Mann mit sich trägt um darauf zu sitzen oder um im Liegen den Kopf darauf abzustützen. Es ist wie ein Freilichtmuseum der Völker.
Unser Führer Moses spricht Amharisch, die Amtssprache Äthiopiens und ein paar der gängigen Stammes-Sprachen. In den meisten Dörfern gibt es junge Männer, die vom Stamm zur Schule geschickt wurden und dort Amharisch lernten. Sie arbeiten nun als Guides und Übersetzer.

Ins Auge stechen die zahlreichen Frauen mit der helmartigen Kopfbedeckung – Kalebassen als Sonnenschutz, Trink- und Essgefäss in einem.
Zusammen mit Moses verziehen wir uns in eine äthiopische Gaststube. Ein paar Plastikstühle und ein wackliger Tisch sind das ganze Inventar. Wir bestellen den sogenannten "Tedy", den äthiopischen Honigwein. Ein traditionelles Getränk aus Honig, Zucker, Fruchtsaft, Wasser, Gewürzen und den Blättern des Saddo Baumes. Schmeckt ein wenig nach vergorenem Apfelsaft, doch unser Lieblingsgetränk wir es bestimmt nicht.

Die meisten der Hamer und Benna kommen zu Fuss aus den umliegenden Dörfern. Nicht selten wandern sie bis zu 20 km, nur um ihre kärglich, mitgebrachte Ware zu verkaufen. Frauen, die mehrere Stunden mit 30 kg Feuerholz auf ihren Rücken durch den Busch gewandert sind, sitzen nun hier in ihren Ziegenfellen gewickelt und versuchen, das Holz für umgerechnet einen Dollar zu verkaufen. Es ist ihre einzige Möglichkeit, um an etwas Geld zu kommen.


Blickfang der besonderen Art

Die Mursi gehören zu den letzten Völkern Afrikas, bei denen Frauen Teller in ihren Unterlippen tragen. Diese Lippenteller sind das charakteristische Erkennungsmerkmal der Mursi, die sie über die Grenzen Äthiopiens bekannt gemacht hat.
Spätestens im Alter von 15 Jahren werden den Mädchen von ihrer Mutter die Unterlippen durchstochen. Das kleine Loch wird mit Hilfe eines Stockes offen gehalten, bis die Wunde verheilt ist. Anschliessend werden immer dickere Stöcke und später kleine Platten eingesetzt. Erwartet wird, dass die Frau später einen Lippenteller von bis zu 12 cm trägt.
Die Tellerlippen gelten als Schmuck, eine Art Schönheitsideal, je größer, umso attraktiver. Die Größe des Lippentellers hat auch Einfluss auf den Brautpreis, die die Eltern der Braut vom Bräutigam verlangen können.

Lange sind wir am überlegen, ob wir die Murs besuchen wollen. Wir befinden uns in Jinka, dem Ausgangsort für die Tour zu den Mursi.
Die Lebensweise, nicht nur der Mursi sondern auch von den anderen afrikanischen Stämmen, hat sich in den letzten Jahren ziemlich verändert. Durch die Verringerung der Wildtierdichte kann weniger gejagt werden, die Anbauflächen für Getreide werden immer kleiner, ein großes Problem für ein Volk von Selbstversorgern.
Nun verkaufen sie sich an die Touristen in Form von Bildern. Für jedes Foto muss bezahlt werden. An sich kein Problem, lässt man ausser Acht, für was das Geld gebraucht wird. Wie uns von andern Reisenden bestätigt wird, gehen die Gelder für Eintritt, Guide und Fotos fast ausschliesslich in den Genuss von Alkohol. Das macht uns ziemlich nachdenklich und wir beschliessen, dies nicht zu unterstützen und auf einen Besuch zu verzichten.
Als wir schon wieder abreisen wollen ergibt sich doch noch eine Gelegenheit, eine Tellerlippen Frau zu Gesicht zu bekommen. Wir lernen Meru kennen, einen waschechten Mursi Mann und er meint, seine Schwester sei hier in Jinka auf Besuch und er könnte eine Zusammenkunft arrangieren. Kurz darauf treffen wir uns alle auf dem Fussballfeld. Seine ganze Familie ist anwesend und die Schwester hat extra für uns den traditionellen Teller in die Unterlippe eingesetzt.
Unsere Blicke hängen wie gebannt an diesem Teller, der in der Mursi Tradition nichts anderes aussagt, als dass wir eine erwachsene Frau vor uns haben. (siehe Fotos)

Eine andere Schwester von Meru hat den Teller nicht eingesetzt. Die Unterlippe hängt lose hinunter. Nicht gerade ein schöner Anblick.
Dafür zeigt uns Meru seine nackte Brust auf der mehrere waagrecht eingeritzte Narben prangen, für jeden getöteten Feind eine!

Am Abend fragen wir uns, ob wir wohl durch unseren Besuch bei den Urvölkern die alten Sozialstrukturen zerstören? Fördern wir schlussendlich durch unseren Obolus von einigen Birr den Alkoholismus? Die Antwort ist nicht einfach.
Noch besuchen die meisten Touristen den Norden des Landes, doch der Süden mit seiner Vielfalt an ethischen Gruppen wird immer beliebter. Was das für die Hamer und all die anderen Völker bedeutet, bleibt dahingestellt.

Das äthiopische Rift Valley

Am nächsten Morgen geht es weiter Richtung Norden, nach Arba Minch. Auf dem Weg dorthin passieren wir viele kleine Dörfer. Alles scheint auf den Beinen zu sein. Die Frauen schleppen die schweren Gegenstände, wie fast überall in Afrika und die Männer führen ihre Ziegen spazieren. Stundenlang tragen die Frauen und Kinder auf gebeugten Rücken die vollen Wasserkanister bis zu ihren Dörfern. Gewiss das halbe Leben wird hier in Äthiopien Wasser, sei es mit Eseln oder Frauen-Power, von einem Ort zum andern transportiert.
Wir müssen höllisch aufpassen, dass wir im Gewusel der Dörfer keine Ziegen überfahren, den schwer beladenen Eselskarren ausweichen können und die johlenden Kinder nicht auf die Stossstange kriegen. Kein leichte unterfangen!

Am Lake Langana finden wir dann ein kleines Paradies. Direkt am langen palmengeschmückten Sandstrand bleiben wir für die nächsten paar Tage stehen. Am Abend sitzen wir zusammen mit Australiern, Dänen und Österreichern um das Lagerfeuer und schauen hinaus auf den See, wo Pelikane gemächlich ihre Runden ziehen.

Die weitere Strecke nach Debre Zeyt führt uns durch eine äusserst fruchtbare Landschaft. Die Menschen pflügen mit ihren Ochsen ihre Äcker und die Strasse ist gesäumt von Gemüse- und Blumen Plantagen, die alle mit Plastikfolien überspannt sind. Wir wir später erfahren, sind diese Plantagen meist in ausländischer Hand und das Gemüse geht auf direktem Weg nach Indien oder China.

Nicht nur auf dem Acker auch politisch tut sich was in Äthiopien. Erst kürzlich hat der junge äthiopische Ministerpräsident Abiy Ahmed tausende von politischen Gefangenen freigelassen, den Ausnahmezustand aufgehoben und die Opposition wieder erlaubt. Er hat Geheimdienstchefs, sowie Generäle der Armee entlassen und Frieden mit dem Erzfeind Eritrea geschlossen.
Für viele Äthiopier sind es die glücklichsten Tage, die sie je erlebt haben. Es herrscht Freude und Aufbruchstimmung. Die Menschen haben sich nach einem Hoffnungsträger wie Abiy Ahmed gesehnt.

Wir hoffen inständig, dass dieser Wunsch nach einem besseren Leben auch für Äthiopien in Erfüllung geht, denn noch vor wenigen Jahren stand der Name Äthiopien als Synonym für all die Katastrophen Afrikas, Dürreperioden, Hungersnöte, Überschwemmungen, Korruption und Bürgerkrieg. Daher ist es nicht verwunderlich, dass sich die Hauptstadt Addis Abeba bald als die Hauptstadt der Entwicklungshilfe etabliert hat. In keiner anderen Stadt der Welt haben so viele Hilfsorganisationen ihre Büros wie in der Hauptstadt Äthiopiens. Die teuersten weiss polierten Landcruiser tragen meist ein Logo irgendeiner Hillfsorganisation wie US Aid, oder sonst einer Organisation.
Da ist es nicht verwunderlich, dass die Äthiopier Weisse in Verbindung mit Geld bringen. Sie sind sich nichts anderes gewöhnt, als dass der reiche Weisse sie mit Geld, Nahrungsmitteln und Kleidern versorgt. Kein Wunder, werden wir vor allem auf dem Land pausenlos angebettelt. "Give me money", ist der Song, den wir den ganzen Tag über hören. Bei allem Verständnis der armen Bevölkerung gegenüber, mit der Zeit nervt das gewaltig. Es sind nicht nur die ärmlichen Bevölkerungsschichten, nein, wir werden von Motorradfahrern angebettelt, der Ladenbesitzer streckt uns die hohle Hand entgegen und auch der uniformierte Gesetzeshüter fragt nach Geschenken. Wieso auch nicht, die Weissen haben in der Vergangenheit reichlich ausgeteilt. Der Staat hat vorwiegend seine Gelder für die Armee eingesetzt, Äthiopien verfügt über eine der grössten Armeen des afrikanischen Kontinents und die ausländischen Organisationen sind oder waren für die Bildung, das Gesundheitswesen und für die Ernährung zuständig.
Dieser Teufelskreis hat das Land in eine Abwärtsspirale gebracht. Der Staat muss einfach lernen, Selbstverantwortung zu übernehmen und versuchen auf eigenen Beinen zu stehen. Andere Länder wie Botswana haben es vorgemacht und ihnen geht es nach einer schwierigen Übergangsphase nun bedeutend besser. Äthiopien hat Bodenschätze, genügend Wasser und ist äusserst fruchtbar.

Die Wiege der Menschheit steht in Äthiopien

Die riesige Stadt Addis Abeba liegt wie La Paz in Bolivien in einem Kessel zwischen 1800 und 2400 Metern und ist damit die dritthöchst gelegene Hauptstadt der Welt. Wir fahren kreuz und quer durch die verstopfte 5 Millionen Metropole, bis wir schliesslich auf dem kleinen Camping bei Wims Holland House ankommen. Es scheint, die ganze Innenstadt ist eine einzige Baustelle. Wolkenkratzer werden mit Hilfe von Bambusstangen in die Höhe getrieben, eine neue Metro wird auf Stelzen errichtet und zwischendurch präsentiert sich die erschreckende Armut der Menschen, die ihre Notdurft einfach am Strassenrand verrichtet und die in den einfachsten Plastikverschlägen haust.
Als erstes beantragen wir das sudanesische Visum, denn der Sudan wird unsere nächste Destination sein. Anschliessend besuchen wir mitten in der Stadt das interessante Nationalmuseum.
Am eindrücklichsten sind da eindeutig die Gebeine von "Lucy", eines der ältesten Frühmenschen der Geschichte. 1974 fanden Wissenschaftler in Hadar im Nordwesten Äthiopiens Knochen eines Vormenschen. Im Überschwang des Fundes tanzten sie zu einer Beatles-Kassette und schmetterten den Song "Lucy in the sky with diamonds" in die Wüstennacht. Seither heissen die Skelettfragmente "Lucy". Die nur einen Meter grosse Dame lebte vor 3,2 Millionen Jahre. Anhand der Becken- und Oberschenkelknochen konnte man beweisen, dass Lucy aufrecht ging und sie ist der älteste Beleg, dass die gesamte Menschheit im Grunde alles Afrikaner sind.

Addis ist nicht gerade eine Schönheit und die meisten bleiben nur so lange in der Stadt als unbedingt nötig. So zieht es auch uns nach nur drei Tagen weiter und auf dem Weg in den Norden besuchen wir das schöne Kloster "Debre Libanos". Dieses ist mit rund 500 Mönchen, die im Klosterareal leben, aktuell das grösste Gotteshaus Äthiopiens. Von hier haben wir eine wunderschöne Sicht auf das weit unter uns liegende Tal des Jema, eines Zuflusses des blauen Nils.
Wir befinden uns aktuell auf über 2500 Metern und fahren auf einer gut ausgebauten Strasse die vielen Serpentinen zur Nilschlucht hinunter. Diese befindet sich auf nur noch 1000 Metern. Es ist eine eindrückliche Fahrt und immer wieder machen wir Halt und bewundern die Aussicht auf den blauen Nil. Erst noch standen wir in Uganda an der Quelle des weissen Nils, nun überqueren wir hier in Äthiopien den blauen Nil und in einigen Wochen werden wir in Khartum am Zusammenfluss des weissen- und blauen Nils sein. Doch bis dahin ist noch ein weiter Weg.
Erstmals fahren wir über die von Japanern gebaute Nilbrücke auf die andere Seite des träge dahin fliessenden Flusses, nur um kurz darauf erneut die steilen Serpentinen hinauf auf das Hochplateau in Angriff zu nehmen. Immer wieder gibt es spektakuläre Blicke auf die weite Nilschlucht zu erhaschen, die auf dieser Seite in grossen Stufen aufsteigt. Auf dem Plateau angekommen, wirkt der blaue Nil am Grunde dieser riesigen Schlucht schon bald recht winzig.

Auf der Weiterfahrt durchqueren wir immer wieder kleine Dörfer, die exakt den immer gleichen Wahnsinn des äthiopischen Lebens wiedergeben. Frauen tragen die schweren Lasten auf ihren Köpfen oder auf gebeugten Rücken, die Männer palavern in schattigen Restaurants mit einer Tasse Café in der Hand und Minibusse werden bis zum Bersten beladen. Die zu transportierenden Ziegen werden da kurzerhand auf den Dachträger geschnallt und die Hühner kopfüber an ihren Füssen an die Stossstange gebunden. Männer mit Turbanen lenken ihre Eselskarren, die mit Säcken voller Kartoffeln und Holzkohle beladen sind, durch die chaotischen Innenstädte. Da jetzt immer öfter Prozessionen durch die Dörfer stattfinden, werden wir von der Polizei durch staubige Nebenstrassen umgeleitet. Diese führen uns nur wenige cm an den mit Kuhdung und Wellblech errichteten Behausungen der hiesigen Bevölkerung vorbei.
Es ist wie eine Zeitreise in längst vergangene Zeiten. Auch bei uns im Mittelalter hat es mal so ausgesehen nur haben wir uns im Laufe der Jahre weiter entwickelt. Hier in Äthiopien, so scheint es uns, hat sich seit hunderten von Jahren fast nichts verändert. Die Menschen bearbeiten weiterhin mit Ochse und Pflug ihre Äcker und gehen überwiegend ihren altertümlichen, archaischen Traditionen nach.
Gewiss, alles schön anzusehen aber nicht auszudenken, hätten wir hier ein gesundheitliches Problem oder das Auto einen grösseren Schaden.

Ein Land so vielseitig und geheimnisvoll

Weiter führt uns die Strasse über hügelige Bergrücken nach Bahar Dar. Immer begleiten uns Menschen am Strassenrand, sie stehen neben der Strasse, sind barfuss, haben Karren und Esel. Wer hier keinen Esel hat ist wahrscheinlich selbst ein Esel. Nur wenige, schmale Fusspfade führen in die Dörfer, in die Hügel und ihre Felder. Noch extremer muss man sich die vielen entlegenen Landesteile vorstellen.
Beidseits der Strasse liegen Felder so wiet das Auge reicht. Jetzt in der Trockenzeit sind sie gelb und braun. Der Mais und Weizen ist längst eingebracht.
Am Abend versuchen wir die landesweite Spezialität, Injera. Dazu braucht es einen robusten Magen. Injera ist ein riesiger Sauerteigfladen der auf einer Schale serviert wird. Darauf liegen, je nachdem was für ein Wochentag ist, mehrere Haufen Brei mit scharfer Sauce, Erbsen, Linsen, Gemüse und selten Fleisch. Man reisst sich vom Rand her ein Stück des Sauerteigfladens ab und tunkt es in den Brei. Die ist und wird gewiss nicht unser Lieblingsessen, doch die Äthiopier lieben es. Sie essen es zum Frühstück, zum Mittagessen und zum Nachtessen.
Das wirklich interessante und zudem vorzüglich schmeckende ist der Café. Es ist jedes mal eine eigentliche Kaffeezeremonie, wobei der Café von einer Serviererin in einer Schwanenhals-Kanne auf der Holzkohle frisch aufgegossen wird. Zum eigentlichen Café, der immer schwarz und mit Zucker getrunken wird, stellt die Dame ein kleines, duftendes Holzkohlefeuer, welches mit aromatischen Kräutern angereichert wird. Das ganze kostet meistens 10 Birr, umgerechnet etwa 35 Rappen.

In Bahar Dar überqueren wir die Nilbrücke, da wo der eigentliche blaue Nil aus dem Tanasee entspringt und viele tausend Kilometer später im Mittelmeer enden wird. Doch unser eigentliches Ziel ist das 300 km entfernte Lalibela. Wir fahren über eine spektakuläre Hochebene mit traumhaften Ausblicken über steil abfallende Canyons. Meistens befinden wir uns in Höhen zwischen 2500 und 3000 Metern.
Generell besteht der Norden Äthiopiens aus Hochplateaus, Steilhängen und Abgründen, übersät mit Dornengestrüpp und Basaltbrocken


Als wir am Abend in Lalibela eintreffen liegt der Duft von Weihrauch über dem quirligen Ort. Priester in Seide und Brokat gehüllt schwenken ihre Rauchkessel und eine Schar von Gläubigen folgt der ganzen Prozession. Einige gehen barfuss, viele sind in weisse Leinengewänder gehüllt, zum Zeichen innerer Reinheit. Andere Gläubige kommen, wiegen sich im Rhythmus der Gebete und drücken die Stirn an die kühlen Steine der heiligen Mauern. Wir befinden uns mitten in der Region Tigray die bekannt ist für ihre Felsenkirchen. Die meisten sind im 12. und 13 Jahrhundert erbaut und wurden von oben her nach unten, teilweise mehr als 10 Meter tief, aus dem Vulkangestein heraus geschlagen worden.

Am nächsten Morgen erwerben wir das 5-tages Ticket für 50 US$ pro Person. Dies ermöglicht uns, alle Kirchen in der näheren Umgebung zu besuchen.
Es ist eng dort unten und dunkel. Das Sonnenlicht kommt nur als schmales Strahlenbündel am Boden an. Die Kirchen heissen St. Georg oder St. Golgatha. Sie sind verbunden durch ein Labyrinth aus Tunneln, Schluchten und Felsbrücken, und sie sind bewohnt von Mönchen, die in Nischen und winzigen Höhlen leben wie in frommen Fuchsbauten. Das einzigartige Christentum in den Bergen von Lalibela, das nicht in die Höhe geschossen ist, sondern sich unter der Erde eingerichtet hat.
Die Felsenkirchen boten Christen im 12. Jahrhundert vermutlich Schutz vor den muslimischen Eroberern. Lalibela sollte ein Bollwerk gegen den vordringenden Islam sein und zugleich ein neues Jerusalem.

Der Legende nach hat Gott dem Kaiser Lalibela, Herrscher über das alte Reich Lasta in einem Traum befohlen, eine heilige Stadt nach dem Vorbild Jerusalems zu errichten. Binnen 23 Jahren soll der König mit Hilfe einer Gruppe von Engeln die Kirchen aus dem Lavagestein gemeisselt haben, so erzählt es uns die Frau, die einen köstlichen Café in einem kleinen Restaurant für uns aufbrüht.

Drei Tage wandern wir zwischen den Kirchen umher, die alle biblische Namen tragen. So finden wir in der westlichen Gruppe das symbolische Grab Adams und Jesu Christi. Unser persönliches Prunkstück ist eindeutig die Kirche des heiligen Georg, die in Form eines griechischen Kreuzes aus dem Felsen herausgeschlagen wurde. Wissenschaftler vermuten, dass es 120 Jahre dauerte, bis die Kirchen fertig waren.

Etwas ausserhalb hören wir plötzlich Gesänge und Gebete. Wir schauen in den von Weihrauch geschwängerten Raum und werden sofort freundlich herein gewunken. Es ist ein Gottesdienst, dessen Rituale sich ausserhalb des übrigen Christentums sich über hunderte von Jahren erhalten hat. Der Priester liest Psalme aus einem alten Buch, die Gläubigen, fein säuberlich getrennt zwischen Weiblein und Männlein, murmeln Gebete, singen in archaischen Sprachen und schwingen dabei ihre Arme im Ryhthmus des Windes.
Am Schluss wird ein riesiger Laib Brot hervorgeholt und jeder Gläubige, so auch wir, bekommt ein Stück vom schwach gesalzenen Brot.

Immer wieder stehen wir andächtig vor einem der vielen in den Tuffsteinfelsen gehauenen Bauwerken. Nicht nur an Weihnachten, wenn sich dort bis zu 100'000 Besucher zu einem magischen Fest versammeln, begeistern sie Reisende. Die aus dem rötlichen Fels gehauenen Gottestempel sind teilweise völlig frei gehauen, selbst Türrahmen und Fenster sind aus Stein. Sie stehen auf einem Sockel oder in einer Grotte und wurden von der UNESCO zum Weltkulturerbe erklärt. Diese Gebäude gelten als die grössten von Menschen "geschnitzten" monolithischen Strukturen der Welt.

Keine Religion prägt das Land so wie die äthiopisch-orthodoxe Kirche. Allein in Tigray gibt es 3500 Gotteshäuser und immer wieder müssen wir infolge einer Prozession eine lange Umfahrung mitten durch die Dörfer bewältigen.

Nach ein paar Tagen in Lalibela wollen wir eigentlich Richtung Aksum aufbrechen, dem heiligsten Ort der äthiopischen Christen. Ein Blick unter den Suri verändert jedoch unsere ursprünglichen Pläne. Aus der Vorderachse tropft Öl. Die schlechten Strassen sowie das schwere Fahrzeug haben der Achse vermutlich mehr zugesetzt als sie vertragen kann und ihren Tribut gefordert. So entscheiden wir schweren Herzens auf die Nordschleife zu verzichten und auf schnellstem Weg zurück in die Zivilisation, das heisst nach Bahir Dar, zu fahren.
Diese Entscheidung bewahrheitet sich in der Folge als Richtig. In der Toyota Garage entfernen sie die Achse vom Chassis und schweissen den Riss professionell. Wir bleiben ein paar Tage am Tana See, dem grössten See von Äthiopien und erholen uns von der stressigen Fahrerei. Schon lange haben wir unseren Fahrradträger mit Dornenbüschen ausgestattet, damit sich die uns johlend folgende Dorfjugend nicht dauern daran hängt und ihn abreist. Eine kluge Entscheidung!

Drei Wochen verbrachten wir in Äthiopien. Drei äusserst interessante Wochen, die uns aber auch viel an Nerven abverlangt haben.
Nun sind wir gespannt auf den Sudan.

Da wird es bestimmt geruhsamer, aber auch bedeutend heisser. Wir werden sehen.

Fazit

Eine Reise nach Äthiopien ist geheimnissvoll, abenteuerlich, vielseitig und ungeheuer anstrengend!

Äthiopien ist riesig, drei mal so gross wie Deutschland, hat eine jahrtausendalte Kultur, ist eines der ältesten christlichen Länder der Welt und zugleich eines der ärmsten Länder der Welt. Äthiopien hat die höchste Dichte an UNESCO Welterbstätten in ganz Afrika, es gilt als Ursprungsland des Kaffees und als Ursprungsland des modernen Menschen. Der blaue Nil entspringt hier. Der Grossteil des Landes liegt auf über 1500 Meter, weshalb Äthiopien auch als "Dach Afrikas" bezeichnet wird. Mit 116 Metern unter dem Meeresspiegel findet man hier im afrikanischen Grabenbruch in der Danakil Senke aber auch den tiefsten Punkt.
Äthiopien ist gewiss eines der interessantesten Länder Afrikas, aber, und jetzt kommt es, die Äthiopier machen es uns Reisenden sehr schwer, dies auch wirklich zu geniessen. Konstant wird man angebettelt, auch in extrem fruchtbaren Gegenden, wo es den Leuten gar nicht so schlecht geht.
Freunde von uns wurden mit Steinen beworfen, es wurden mit Holzstöcke auf ihr Auto geschlagen und sie wurden aggressiv um Geld gebeten. Velofahrer wurden mit Steinen am Kopf getroffen und Motorradfahrer mussten waghalsige Ausweichmanöver fahren.

Die ganze Bettelei, auch wenn man dies teilweise versteht, ist mit der Zeit sehr nervenaufreibend und ermüdend. Trotzdem, uns hat dieses Land sehr gefallen aber wir sind auch froh, es wieder verlassen zu können.

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